Zerstörung

 

Der Wind trieb Staub über die Mauer.

Arutha blinzelte, als er sah, wie Männer auf Pferden vor den Linien des versammelten Heeres entlang auf Murmandamus' Banner zuritten. Die Angriffe waren drei Tage ununterbrochen weitergegangen, ehe sie eingestellt worden waren. Im Lager von Murmandamus wurde nun Rat gehalten, so jedenfalls erschien es Arutha.

Seit einer Stunde dauerte die Besprechung an. Arutha dachte darüber nach. Die letzten Angriffe waren heftig gewesen, genau wie die davor. Doch ihnen hatte der Schrecken gefehlt, weil die feindlichen Krieger nicht mehr durch Magie ins Innere der Stadt gebracht wurden. Es war Arutha ein Rätsel, warum diese magischen Angriffe aufgehört hatten. Er ging davon aus, daß Murmandamus einen schwerwiegenden Grund haben mußte, wenn er seine Künste nicht mehr anwendete. Vielleicht hatte er eine Grenze, vielleicht konnte er in einer bestimmten Zeit nur ein bestimmtes Maß an Magie ausüben. Etwas Ernstes mußte vorliegen, vermutete Arutha, schon deshalb, weil Murmandamus seine Anführer zusammengeholt hatte.

Amos schlenderte an der Mauer entlang und inspizierte die diensthabenden Soldaten. Es war spät am Tag, und manche Männer lehnten sich schon zurück, da wahrscheinlich vor dem Morgen keine weitere Attacke erfolgen würde. Die Truppen im Lager des Feindes standen nicht in Angriffsstellung, und es würde Stunden dauern, sie antreten zu lassen. Amos trat neben Arutha und sagte: »Also dann, wenn Ihr das Kommando hättet, was würdet Ihr tun?«

»Wenn ich die Männer dazu hätte, würde ich die Brücke ausfahren lassen, einen Ausfall machen und ihn erwischen, ehe er seine Truppe in Aufstellung gebracht hätte. Murmandamus hat seinen Kommandoposten viel zu dicht an der Frontlinie aufgeschlagen, scheinbar völlig gedankenlos wurde eine Kompanie Goblins verlegt, jetzt könnte man fast völlig ungestört bis zu seinem Pavillon reiten. Mit berittenen Bogenschützen an der Spitze und mit ein bißchen Glück wären etliche seiner Hauptmänner tot, ehe sie überhaupt Widerstand leisten könnten. Bis sie sich erhoben hätten, wäre ich längst wieder in der Stadt.«

Amos grinste. »Was für ein helles Köpfchen Ihr seid, Hoheit. Wenn Ihr wollt, könnt Ihr mit uns spielen kommen.«

Arutha sah Amos fragend an, und der Seemann legte den Kopf schief. Arutha blickte an ihm vorbei auf den Hof und bemerkte, wie sich vor dem inneren Tor des Außenwerks Reiter in Aufstellung brachten. »Kommt mit. Ich habe für Euch auch ein Pferd satteln lassen.« Arutha folgte Amos die Stufen zu den wartenden Reittieren hinunter. »Und wenn Murmandamus noch einen magischen Trick auf Lager hat, den er uns entgegenschleudert?«

»Dann werden wir alle sterben, und Guy wird um die beste Gesellschaft trauern, die er in den letzten zwanzig Jahren gehabt hat: um mich.« Amos stieg auf. »Ihr macht Euch zu viele Sorgen, Mann. Habe ich Euch das schon einmal gesagt?«

Arutha lächelte zweifelnd, während er ebenfalls aufsaß. Guy, der bei den Toren wartete, sagte: »Seid doppelt wachsam. Wenn ihr sie erwischen könnt, gut, aber ich will keine heldenhaften Selbstmordattacken nur der schwachen Chance wegen, an Murmandamus heranzukommen. Wir brauchen euch hier wieder zurück.«

Amos lachte. »Einauge, ich bin der letzte Kandidat, der sich für irgendwelche Heldentaten melden würde.« Er gab das Zeichen, und das innere Tor wurde geöffnet. Als es sich wieder schloß, konnte man das Rumpeln hören, das das Ausfahren der Brücke begleitete. Plötzlich schwang das äußere Tor auf, und Amos führte die Kompanie nach draußen. Vorreiter gingen auf ihre Positionen an den Flanken, während der Haupttrupp auf die Belagerungsarmee zuritt. Zuerst war es, als würde der Feind überhaupt nicht begreifen, daß ein Ausfall stattfand, nicht einmal Alarm wurde gegeben. Sie waren schon fast bei den Vorposten von Murmandamus' Armee, als die Trompeten erschollen. Und während die Goblins und Trolle noch nach ihren Waffen suchten, jagten Amos und seine Reiter schon auf sie zu.

Arutha ritt geradewegs auf den Hügel zu, wo Murmandamus und seine Kommandanten ihre Besprechung abhielten. An seiner Seite befanden sich drei armengarische Bogenschützen. Er wußte nicht, was ihn antrieb, doch plötzlich spürte er das dringende Bedürfnis, diesen Herrn der Dunkelheit kennenzulernen. Ein Trupp Reiter, der dicht bei den Armengaren war, galoppierte los und versuchte, Arutha von den anderen abzuschneiden. Arutha stand auf einmal einem menschlichen Abtrünnigen gegenüber, der ihn angrinste und nach ihm schlug. Arutha tötete ihn rasch. Dann ging der Kampf richtig los.

Arutha blickte auf den Pavillon und hatte freie Sicht auf Murmandamus und den Schlangenfreund an seiner Seite. Den Anführer der Moredhel schien das Gemetzel unter seinen Truppen gleichgültig zu lassen. Etliche Armengaren wollten näher an den Pavillon herankommen, doch sie wurden von berittenen Abtrünnigen und Moredhel abgefangen. Einer der Bogenschützen zügelte sein Pferd und schickte gelassen einen Pfeil auf den Pavillon ab. Da er erfahren hatte, daß Murmandamus unverletzbar war, suchte er sich ein anderes Ziel. Schnell waren andere Bogenschützen bei ihm, und plötzlich lagen zwei von Murmandamus' Anführern am Boden, wovon der eine mit Sicherheit tot war, weil ihm ein Schaft aus dem Auge ragte. Eine weitere Truppe Fußsoldaten rannte auf die Stelle zu, wo Arutha sich einen Weg durch die Goblins, Trolle und Moredhel schlug, um die Bogenschützen zu decken, die weitere Pfeile auf die Anführer abschössen. Eine endlos erscheinende Zeitlang waren das Klingen von Stahl und das Pochen in seinen Ohren alles, war Arutha hörte. Dann schrie Amos: »Beginnt den Rückzug!« Der Ruf wurde von anderen Reitern weitergegeben, bis jeder ihn gehört hatte.

Arutha warf einen Blick zurück dorthin, wo Amos auf seinem Pferd saß, und sah einen weiteren Trupp Reiter auf sie zuhalten. Arutha schwang sein Schwert, holte den nächsten Abtrünnigen aus dem Sattel und hielt auf Trask zu. Der Nachschub der Abtrünnigen griff Amos' Reiter an und brachte sie zum Stehen. Daraufhin fuhren die Truppen aus Armengar wie ein Mann herum und attackierten Murmandamus' Kavallerie. Langsam erkämpften sich die Reiter ihren Weg aus dem Lager heraus, töteten jeden, der sie daran hindern wollte, und flüchteten. In den Massen vor ihnen klaffte eine Lücke, und der Weg zu den Toren zurück war frei. Arutha gab seinem Pferd die Sporen und gesellte sich zu den anderen, die auf die Stadt zustürmten. Er sah über die Schulter zurück. Eine Truppe schwarzgekleideter Reiter schoß an Murmandamus' Pavillon vorbei und verfolgte sie in wilder Jagd. Arutha schrie Amos zu: »Schwarze Kämpfer!«

Amos gab ein Zeichen, und mehrere Reiter scherten aus und wandten sich den Schwarzen Kämpfern zu. Sie griffen an, und bei dem Waffengang wurden einige Reiter beider Seiten aus dem Sattel geworfen. Dann entstand ein Handgemenge, als die Armengaren sich befreiten, während ein weiterer Trupp der Moredhel hinzukam. Nicht alle Armengaren, die gestürzt waren, schafften es wieder in die Sättel. Ein gutes Dutzend Soldaten lag auf dem sandigen Boden der Ebene.

Als Amos Kompanie die Mauer erreichte, wurden die Tore geöffnet und sofort wieder geschlossen, und die Reiter wendeten, sobald sie im Außenwerk waren. Hinter ihnen eilte die Nachhut heran, noch immer in Kämpfe mit den Schwarzen Kämpfern und anderen Moredhel verwickelt. Ein Dutzend Armengaren versuchte, mehr als dreißig Verfolgern zu entkommen.

Amos stand neben Arutha, während die Schwarzen Kämpfer zwei Reiter niederschlugen. »Zehn«, sagte Amos, indem er die verbleibenden Reiter zählte. Diese jagten auf das Tor zu. Amos sagte: »Neun, acht«, dann: »sieben.« Auf der staubigen Ebene überwältigten schwarzgerüstete Reiter ein halbes Dutzend fliehender Soldaten, und Amos sagte: »Sechs, fünf, vier.«

Mit einem verärgerten Unterton in der Stimme befahl er letztlich: »Schließt das Tor!«

Das Tor schwang langsam zu, und Amos zählte weiter. »Drei, zwei ...« Die beiden letzten Reiter wurden niedergemetzelt.

Von oben hörten sie das Zischen der ausgelösten Katapulte. Im nächsten Moment erfüllte das Geschrei sterbender Moredhel die Luft. Die inneren Tore öffneten sich, Amos gab seinem Pferd die Sporen und sagte: »Zumindest haben diese Bastarde dafür bezahlt. Wenigstens vier der Anführer habe ich am Boden liegen sehen, und zwei von ihnen waren mit Sicherheit tot.« Amos wandte sich noch einmal um, als könnte er durch die massiven Tore hindurchblicken. »Aber warum hat dieser Bastard keine Magie benutzt? Das kann ich mir beim besten Willen nicht erklären. Er hätte uns doch alle im Sack haben können.«

Arutha nickte nur. Genau das gleiche fragte er sich auch. Er übergab sein Pferd einem Jungen, der für die Reittiere sorgen sollte, und eilte die Treppe zu Guys Kommandostand hoch. Ein »Verflucht!« begrüßte ihn, als er sich zum Protektor gesellte.

Mehrere der im Staub liegenden Gestalten mit schwarzen Rüstungen erhoben sich. Mit zuckenden Bewegungen machten sie sich auf den Rückweg hinter ihre eigenen Reihen. Schnell wurden ihre Bewegungen flüssiger, und bald rannten sie so, als wären sie gar nicht verletzt gewesen.

»Als Ihr mir davon erzählt habt ...«, setzte Guy an.

»... konntet Ihr es nicht glauben«, beendete Arutha den Satz. »Ich weiß. Man muß es selbst sehen, um es wirklich glauben zu können.«

»Wie habt Ihr sie getötet?«

»Feuer, Magie, oder wir haben ihnen das Herz aus dem Leibe geschnitten. Ansonsten, selbst wenn man sie in Stücke reißt, finden die Einzelteile wieder zueinander und werden von Minute zu Minute stärker. Mit anderen Mitteln als den erwähnten kann man sie nicht aufhalten.«

Guy beobachtete die sich zurückziehenden Schwarzen Kämpfer. »Ich war von diesen magischen Dingen nie so fasziniert wie Euer Vater, Arutha, doch jetzt würde ich mein halbes Herzogtum - mein früheres Herzogtum - darum geben, wenn ich einen einzigen begabten Magier hier hätte.«

Arutha dachte nach. »Es gibt etwas, das mir Sorgen macht. Ich kenne mich mit diesen Dingen nicht besonders gut aus, aber es kommt mir so vor, als würde Murmandamus uns bei all seiner Macht ausgesprochen wenig Schwierigkeiten machen. Pug - ein mir bekannter Magier - hat mir Dinge erzählt, die dieser Murmandamus gemacht hat ... und das übertrifft alles, was wir bisher gesehen haben. Ich glaube, selbst Pug könnte einfach die Tore aus den Mauern reißen, wenn ihm der Sinn danach stünde.«

»Ich verstehe gar nichts von solchen Sachen«, gestand Guy ein.

Amos war dazugekommen und stand jetzt hinter ihnen. »Vielleicht möchte dieser König der Schweine nicht, daß sich seine Armee zu sehr auf ihn verläßt.« Guy und Arutha warfen Amos neugierige Blicke zu. »Es könnte eine Frage der Kampfmoral sein.«

Guy schüttelte den Kopf. »Irgendwie stelle ich es mir nicht ganz so einfach vor.«

Arutha betrachtete die Verwirrung im Lager des Feindes. »Was es auch sein mag, wir werden es wahrscheinlich bald erfahren.«

Amos lehnte sich auf die Mauer. »Euer Bruder und die anderen sind jetzt vor zwei Wochen aufgebrochen. Wenn alles so verläuft, wie geplant, erreicht Martin heute den Steinberg.«

Arutha nickte. »Wenn alles so verläuft, wie geplant.«

 

Martin duckte sich und drückte den Rücken dicht an den nassen Granit. Das Scharren der Stiefel auf dem Fels über ihm verriet, daß die Verfolger nach seinen Spuren suchten. Er hielt den Bogen vor sich und sah sich die gerissene Sehne an. In seinem Bündel hatte er noch eine zweite, doch jetzt war keine Zeit, sie aufzuziehen. Wenn sie ihn entdeckten, würde er die Waffe fallen lassen und das Schwert ziehen.

Er atmete langsam und versuchte, ruhig zu bleiben. Derweil fragte er sich, ob sich das Schicksal Baru und Laurie freundlich gezeigt hatte. Zwei Tage zuvor hatten sie eine Gegend erreicht, die die Hügel von Yabon zu sein schienen. Und bis heute, kurz nach Sonnenaufgang, hatten sie kein Zeichen der Verfolger mitbekommen, als sie schließlich von einer berittenen Patrouille von Murmandamus eingeholt worden waren. In dem Versuch, sich von ihnen nicht bis zur Erschöpfung hetzen zu lassen, waren sie die Felsen am Rande des Weges hinaufgeklettert, doch die Moredhel waren abgestiegen und ihnen gefolgt. Durch reinen Zufall waren Martin und die anderen auf verschiedenen Seiten des Weges gelandet, und deshalb hatten Laurie und Baru nach Süden ziehen müssen, während Martin nach Westen rannte. Hoffentlich hatten sie genug Verstand und zogen weiter nach Süden in Richtung Yabon, und hoffentlich unternahmen sie nicht den Versuch, sich wieder mit ihm zu treffen.

Sie hatten ihn den ganzen Tag gejagt. Martin blickte nach oben und sah die Sonne bereits hinter den Bergen verschwinden. Er schätzte, er hatte vielleicht noch zwei Stunden Tageslicht. Wenn er ihnen bis zur Dunkelheit nicht in die Hände fiel, war er in Sicherheit.

Die Stiefeltritte wurden leiser, und Martin machte sich auf. Er verließ den Schutz der Felsen über ihm und hastete halb geduckt einen kleinen Bachlauf hinauf. Er ging davon aus, daß er sich bereits in der Nähe von Steinberg befand, obwohl er noch nie aus Nordosten dorthin gekommen war. Doch einige Merkmale der Landschaft erschienen ihm vertraut, und hätten jetzt nicht andere Sorgen seine Aufmerksamkeit beansprucht, hätte er die Zwerge leicht gefunden.

Martin umrundete einen Felsvorsprung, und plötzlich tauchte ein Moredhelkrieger vor ihm auf. Ohne Zögern schlug Martin mit dem Bogen zu und erwischte den Dunkelelb mit der schweren Elbenwaffe. Der überraschte Moredhel geriet ins Wanken, und ehe er noch die Fassung wiedererlangte, hatte Martin das Schwert gezogen, und der Moredhel lag tot am Boden.

Martin drehte sich um und suchte nach Spuren der Gefährten des Moredhel. In der Ferne glaubte er eine Bewegung zu sehen, doch er war sich nicht sicher. Rasch eilte er weiter nach oben und kam an den nächsten Vorsprung. Er spähte an ihm vorbei und entdeckte ein halbes Dutzend Pferde, die dort angebunden waren. Irgendwie war es ihm gelungen, sich hinter seine Verfolger zu schleichen, und jetzt war er sogar noch über ihre Pferde gestolpert. Martin rannte los, und schon saß er im Sattel. Mit dem Schwert zerschnitt er die Zügel der anderen Pferde, schlug ihnen mit der flachen Klinge auf die Flanken und trieb sie davon.

Er riß das Pferd herum, gab dem Tier die Sporen und jagte durch die kleine Schlucht hinunter zum Weg. Dort würde er den Moredhel entkommen und zum Steinberg gelangen.

Ein dunkler Schatten löste sich von einem Felsen, an dem Martin vorbeiritt, und zerrte ihn aus dem Sattel. Martin rollte zur Seite, kam auf die Beine und nahm geduckte Kampfhaltung an. Zur gleichen Zeit wie der Moredhel zog er das Schwert. Die beiden Kämpfer standen sich gegenüber, und der Moredhel schrie etwas in einem rauhen Elbendialekt. Martin griff an, doch sein Gegner war ein gewandter Fechter und hielt Martin auf Abstand. Martin wußte, wenn er sich umdrehte und floh, hätte er die Klinge in den Rippen, und wenn er bliebe, stände er bald fünf Moredhel gegenüber. Martin trat Steine und Kiesel in die Richtung des Moredhel, doch der hatte genügend Erfahrung und wich zur Seite aus, damit er keinen Staub in die Augen bekam.

Dann hörte Martin aus beiden Richtungen der kleinen Schlucht Stiefeltritte über die Felsen näherkommen. Der Moredhel schrie wieder etwas, und links von Martin - aus dem Süden - antwortete jemand. Von rechts wurde das Gerassel einer Rüstung lauter. Der Moredhel schielte kurz in die Richtung, und Martin griff an. Der Dunkelelb hätte den Schlag fast abwehren können, doch zu seinem Ärger schnitt ihm die Klinge leicht in den Arm. Martin nutzte den kleinen Vorteil aus, und während der Moredhel das Gleichgewicht verlor, wagte er einen riskanten Stoß, der ihn im Falle des Mißerfolgs einer Riposte aussetzen würde. Doch dazu kam es nicht. Der Moredhel wurde steif und brach zusammen. Martin zog seine Klinge zurück.

Ohne zu zögern, sprang er zu den Felsen und versuchte, hinaufzuklettern, ehe sie ihn von beiden Seiten überrannten. Vom südlichen Ende der Schlucht liefen Moredhelkrieger heran, und einer schlug mit dem Schwert nach Martin.

Martin trat unerwartet nach ihm, und der Krieger duckte sich, weswegen sein Hieb danebenging. Und genauso unerwartet griff eine Hand von oben nach Martins Jagdrock.

Ein kräftiges Paar Arme zog den Herzog von Crydee herauf und zerrte ihn über den Rand der kleinen Schlucht. Martin hob den Kopf und sah in ein grinsendes Gesicht mit einem vollen roten Bart. »Tut mir leid wegen dieser rauhen Behandlung, aber da unten scheint es ein wenig unangenehm zu werden.«

Der Zwerg zeigte an Martin vorbei, der drehte sich um und entdeckte, wie aus dem Norden des tiefen Grabens ein Dutzend Zwerge heranstürmten. Die Moredhel bemerkten die Überlegenheit der Zwerge und versuchten zu flüchten, doch die Zwerge hatten sie schon gestellt, bevor sie nur zehn Meter weit gekommen waren. Der Kampf war schnell vorüber.

Ein anderer Zwerg trat zu dem an Martins Seite. Der erste reichte Martin eine Wasserflasche. Der Herzog von Crydee stand auf und nahm einen Schluck. Er sah auf die beiden Zwerge hinunter, von denen der größere vielleicht fünf Fuß groß war, und sagte: »Besten Dank an Euch.«

»Keine Ursache. Die Dunklen Brüder treiben sich hier in der letzten Zeit vermehrt herum, und deshalb haben wir unsere Patrouillen verstärkt. Und da wir Gäste haben« - er zeigte auf ein paar Zwerge, die zu ihnen heraufkletterten -, »mangelte es uns auch nicht an Burschen, die gern ausziehen und sich mit ihnen schlagen. Normalerweise rennen diese Feiglinge immer davon, weil sie wissen, was passiert, wenn sie uns zu nah auf die Pelle rücken, doch diesmal waren sie ein bißchen zu langsam. Also, wenn ich vielleicht fragen darf, wer Ihr seid und was Ihr hier am Steinberg macht?«

Martin fragte: »Das hier ist der Steinberg?«

Der Zwerg deutete auf einen Punkt hinter Martin, und der Herzog drehte sich um. Über den Rand der kleinen Schlucht hinweg sah er einen Wald. Und über dem Wald erhob sie die kahle Seite eines hohen Berges, der bis in die Wolken ragte. In den letzten Tagen hatte Martin seine Aufmerksamkeit allein auf die Flucht und auf Verstecke gerichtet und nur auf Felsen und Schluchten geachtet. Jetzt erkannte er den Gipfel. Martin war nur noch einen halben Tagesmarsch vom Steinberg entfernt.

Er musterte die versammelten Zwerge. Dann zog er seinen rechten Handschuh aus und zeigte das Wappen. »Ich bin Martin, Herzog von Crydee. Ich muß mit Dolgan sprechen.«

Die Zwerge sahen ihn mißtrauisch an, als wäre es unmöglich, daß ein Lord des Königreiches auf diese Weise zu ihren Minen kommen würde. »Ich bin Paxton. Mein Vater ist Harthorn, der Sohn der Kriegsherrn des Steinbergclans und der Oberste des Dorfes Delmoria. Kommt mit, Lord Martin, wir werden Euch zum König bringen.«

Martin lachte: »Also hat er die Krone angenommen.«

Paxton grinste: »In gewisser Weise, ja. Nachdem wir ihm ein paar Jahre zugeredet haben, hat er gesagt, er würde die Aufgaben des Königs, nicht aber die Krone übernehmen. Und nun sitzt er in der langen Halle. Kommt, Euer Hoheit. Bis zum Einbruch der Dunkelheit können wir dort sein.«

Die Zwerge machten sich auf, und Martin gesellte sich zu ihnen. Zum ersten Mal seit Wochen fühlte er sich sicher, doch jetzt kamen ihm auch sein Bruder und die anderen wieder in den Sinn. Wie lange würden sie aushalten können, fragte er sich.

 

Das Lager hallte wider von einer Kakaphonie aus Trommeln, Trompeten und Rufen. Aus jeder Ecke wurde der Befehl zum Antreten erwidert. Guy betrachtete die Aufstellung, als die trügerische Dämmerung dem Licht des Morgens wich. Er sagte zu Arutha: »Bevor die Sonne den Zenit erreicht hat, wird er mit allem kommen, was er hat. Murmandamus hat vielleicht gedacht, er müßte Truppen für den Angriff auf Yabon in Reserve halten, doch er kann sich keinen einzigen Tag Verzögerung mehr leisten.«

Arutha nickte und sah zu, wie jede Kompanie auf dem Schlachtfeld vor der Stadt ihre Kampfaufstellung einnahm. Er hatte sich noch nie so müde gefühlt. Nach dem Tod von Murmandamus' Hauptmännern war im feindlichen Lager für zwei Tage großer Aufruhr ausgebrochen, dann war wieder Ruhe eingekehrt. Arutha hatte keine Ahnung, welche Abmachungen getroffen und welche Versprechungen gemacht worden waren, doch schließlich, drei Tage nach dem Ausfall, waren sie wieder gekommen.

Die Angriffe hatten die folgende Woche angedauert, und jedesmal hatten mehr Angreifer die Mauern erreicht. Der letzte Angriff am gestrigen Tag war nur zurückgeschlagen worden, weil sämtliche Reservetruppen dorthin geschickt worden waren, wo der Feind offensichtlich dem Durchbruch nahe war. Es hatten nur noch wenige Minuten gefehlt, dann hätten die Angreifer eine Stelle auf der Mauer gesichert, und daraufhin hätten immer mehr Krieger die Sturmleitern ohne Gefahr hinaufklettern können. Eine Flut - vielleicht eine tödliche Flut - von Eindringlingen hätte dann in die Stadt drängen können. Seit Martins Aufbruch waren siebenundzwanzig Tage vergangen, dachte Arutha. Selbst wenn die Hilfe unterwegs war, nun würde sie unweigerlich zu spät kommen.

Jimmy und Locklear warteten in der Nähe, bereit für ihre Kurierdienste. Jimmy betrachtete seinen Freund. Seit Bronwynns Tod kämpfte Locklear wie besessen. Er wich keinem Kampf aus und mißachtete oft den Befehl, als Kurier weiter hinten zu bleiben. Dreimal hatte Jimmy gesehen, wie sich der Junge in ein Gefecht stürzte, dem er aus dem Weg hätte gehen sollen. Seine Fechtkünste und seine Schnelligkeit waren dabei viel wert gewesen, und Locklear hatte überlebt, doch Jimmy war sich nicht sicher, wie lange Locklear das noch gelingen würde oder ob der Junker sich das überhaupt wünschte. Er hatte versucht, mit ihm über das Mädchen zu reden, doch der jüngere Junker war dem aus dem Weg gegangen. Jimmy hatte schon - noch ehe er sechzehn geworden war - zu viele Tote und zu viel Zerstörung gesehen. Vielen Dingen gegenüber war er abgestumpft. Selbst als er geglaubt hatte, Arutha oder Anita wären gestorben, hatte er sich nicht so tief in sich zurückgezogen. Jimmy machte sich Sorgen um seinen Freund und wünschte, er würde von solchen Dingen mehr verstehen.

Guy schätzte die Stärke der Armee vor sich ab und meinte schließlich mit leiser Stimme: »Wir können sie an der Mauer nicht mehr aufhalten.«

Arutha sagte: »Das habe ich auch schon gedacht.« In den vier Wochen seit Martins Aufbruch hatten sie die Stadt gehalten, und die Soldaten von Armengar hatten Dinge geleistet, die selbst Aruthas optimistischste Annahmen übertrafen. Sie hatten alles gegeben, doch auch die Reservetruppen waren inzwischen zermürbt. In der letzten Woche waren weitere tausend Soldaten gestorben oder kampfunfähig gemacht worden. Nunmehr waren die Verteidiger zu dünn gesät, um es mit der vollen Macht der Angreifer aufzunehmen, und die Sorgfalt, mit der Murmandamus jetzt vorging, ließ keinen Zweifel: Heute wollte er seine ganzen Kräfte in diesen letzten alles beendenden Angriff werfen. Guy nickte Amos zu. Der Seemann sagte zu Jimmy: »Unterrichte alle Kommandanten: Mit der dritten Stufe der Räumung soll begonnen werden.«

Jimmy stupste Locklear an, der fast in Trance vor sich hinstarrte, und führte seinen Freund davon. Sie liefen über die Mauer und suchten die Kommandanten. Arutha sah, wie einige ausgewählte Soldaten von der Mauer stiegen, nachdem der Befehl die Runde gemacht hatte. Sie eilten die Stufen zum Hof hinter der Mauer hinunter und rannten auf die Zitadelle zu.

Arutha fragte: »Wie habt Ihr die Gruppen zusammengestellt?«

Guy antwortete: »Ein gesunder Kämpfer, zwei bewaffnete alte Männer oder Frauen, drei ältere Kinder und fünf kleine.« Innerhalb weniger Minuten würden Dutzende solcher Gruppen durch lange Tunnel flüchten, die von der großen Höhle unter der Stadt durch die Berge führten. Sie würden sich nach Süden voranarbeiten und in Yabon Zuflucht suchen. Man hoffte, auf diesem Weg könnten wenigstens einige der Kinder von Armengar überleben. Der jeweilige Soldat, der jede Gruppe anführte, hatte Befehl, die Kleinen zu beschützen oder sie eigenhändig zu töten, bevor sie in die Gefangenschaft der Moredhel gerieten.

Langsam stieg die Sonne höher und nahm ungerührt von den Kämpfen unter ihr die gewohnte Bahn. Als sie den Zenit erreichte, war das Signal zum Angriff immer noch nicht erfolgt. Guy fragte sich laut: »Worauf warten sie?«

Fast zwei volle Stunden später ertönten über die unbewegte Armee hinweg schwache dumpfe Schläge, die die Verteidiger kaum hören konnten. Die Schläge dauerten eine halbe Stunde an, dann erschollen entlang der gesamten Angriffsreihe die Trompeten. Hinter den Linien tauchten eigentümliche Figuren im hellen, blauen Himmel auf. Sie erschienen wie riesige schwarze Spinnen. Langsam und imposant bewegten sie sich durch das Heer. Schließlich ließen sie die Angriffsreihen hinter sich und kamen auf die Stadt zu. Während sie näher rückten, beobachtete Arutha sie eingehend. Fragende Rufe wurden überall auf der Mauer laut, und Guy fragte: »Götter, was ist das?«

»Eine Art von Maschinen«, erklärte Arutha. »Bewegliche Belagerungstürme.« Es schienen riesige Kisten zu sein, drei oder viermal so groß wie die, die in der vergangenen Woche vor der Mauer eingesetzt worden waren. Sie rollten auf großen Rädern, allerdings konnte man nicht erkennen, was sie antrieb, denn weder Riesen, Sklaven oder Lasttiere waren zu sehen. Sie bewegten sich aus eigener Kraft, durch irgendwelche magischen Mittel. Ihre immensen Räder holperten laut über die Unebenheiten des Geländes.

»Katapulte!« schrie Guy und zog die erhobene Hand nach unten.

Steine wurden über ihre Köpfe hinweggeschleudert und krachten in die Kisten. Die Stütze einer der Kisten wurde zerschmettert, und das ganze Ding begann zu wanken und knallte mit lautem Krachen zu Boden. Wenigstens hundert tote Goblins, Moredhel und Menschen ergossen sich dabei ins Freie.

Arutha sagte: »In jedem dieser Dinger müssen mindestens zwei- bis dreihundert Soldaten stecken.«

Guy zählte schnell durch. »Es kommen noch neunzehn andere. Wenn eins von dreien die Mauer erreicht, sind das fünfzehnhundert Angreifer auf einen Schlag. Öl und brennende Pfeile!« rief er.

Die Verteidiger versuchten, die Kisten in Brand zu setzen, während diese auf die Mauer zurumpelten, doch das Holz war mit irgend etwas behandelt worden, und das Öl, das auf einigen der riesigen Kisten brannte, verkohlte nur das Holz. Schreie von innen verrieten zwar den angerichteten Schaden, doch die Kisten kamen nicht zum Stillstand.

»Alle Reservetruppen auf die Mauer! Bogenschützen auf die Dächer um den Hof hinter der Mauer! Die berittenen Kompanien auf ihre Posten!«

Guys Befehle wurden rasch überbracht, während die Verteidiger auf die heranrückenden Kisten warteten. Die magischen Belagerungstürme erfüllten die Luft mit einem lauten Knirschen, das von den sich schwerfällig drehenden Rädern herrührte.

Dann erreichte die erste Kiste die Mauer. Die Vorderseite klappte auf, und Dutzende von Goblins und Moredhel sprangen heraus und stürzten sich auf die Verteidiger. Bald waren auf jedem Fußbreit der Mauer heftige Gefechte entbrannt. Die Armee hinter den Belagerungstürmen flutete über die Ebene. Auch die Rückwände der Kisten klappten auf, und lange Strickleitern wurden ausgeworfen. Die Angreifer am Boden rannten los und kletterten zu den plötzlich erreichbaren Eingängen in die Stadt hinauf. Lange lederne Schürzen wurden direkt über den Strickleitern heruntergelassen und boten den Kletternden Schutz vor dem Pfeilhagel von den Mauern. Die Kommandanten an den Katapulten schossen weiter, und viele von Murmandamus' Soldaten starben unter den Steinen, doch die Bogenschützen waren bereits zur ersten Reihe der Häuser abkommandiert worden, und die Verteidiger auf der Mauer mußten sich mit den Angreifern aus den Türmen beschäftigen, also gab es keine große Gegenwehr gegen das Heer, das Sturmleitern an der Mauer aufrichtete.

Arutha war in einen Kampf mit einem Moredhel verwickelt, der über den Leichnam eines gefallenen armengarischen Soldaten gesprungen war, und der Prinz von Krondor drängte den Dunkelelb zurück. Der Moredhel stolperte und fiel über die Brüstung auf die Steine unter ihnen hinab.

Der Prinz fuhr herum und sah, wie Guy einen weiteren tötete. Der Protektor blickte sich um und schrie: »Wir können sie hier nicht mehr aufhalten. Wir ziehen uns in die Zitadelle zurück! Gebt das weiter!«

Der Befehl wurde weitergegeben, und plötzlich hasteten die Verteidiger vor den Angreifern, die die Mauer von außen überfluteten, davon. Ein ausgewählter Trupp Soldaten hielt die Treppen solange frei, bis ihre Kampfgefährten in die Stadt geflüchtet waren. Diese Gruppen bestanden nur aus Freiwilligen, die sich auf den Tod gefaßt gemacht hatten.

Arutha rannte über den Hof vor der Mauer und beobachtete, wie die letzten Verteidiger dort oben überwältigt wurden. Als er den halben Weg über den großen offenen Hof zurückgelegt hatte, sprangen die ersten Angreifer bereits die Treppen hinunter und machten sich zum Tor auf. Plötzlich regnete es Pfeile von den Häusern gegenüber dem Tor, und die Angreifer starben bis zum letzten Mann. Dann war Guy an Aruthas Seite, und Amos rannte an ihnen vorbei.

»Wir können sie so lange von den Toren fernhalten, bis sie ihre eigenen Bogenschützen auf der Mauer in Stellung gebracht haben. Dann müssen sich unsere Leute zurückziehen.« Arutha sah nach oben. Zwischen den Häusern führten Bohlen von Dach zu Dach. Wenn die Bogenschützen sich aus der ersten Reihe von Häusern zurückziehen würden, würden sie auch die Bohlen mitnehmen. Das Goblinheer müßte dann erst die Türen einrammen, die Treppen hinaufsteigen und sich Mann gegen Mann mit den Bogenschützen auseinandersetzen. Ständig würden diese jedoch ihre Pfeile in die Straße hinunterschicken, und so würden die Eindringlinge jeden Zoll, den sie vorankamen, mit Blut bezahlen müssen. In Verlauf des letzten Monats waren überall auf den Dächern in Wachstuch gehüllte Köcher mit Pfeilen sowie weitere Bogen und Bogensehnen als Ersatz verteilt worden. So wie Arutha es einschätzte, würde Murmandamus noch einmal etwa zweitausend Opfer bringen müssen, um seine Armee vom Hof hinter der Mauer auf den Hof vor der Zitadelle zu bringen.

Auf den ersten Hof kam jetzt eine Gruppe Männer mit Holzhämmern zugerannt. Sie warteten hinter den schweren Fässern, die an den Ecken standen, auf ihren Befehl. Einen Moment lang schien es, als könnten sie überwältigt werden, weil sich eine Flut von Goblins und deren Verbündeten in die Straßen ergoß. Dann fegte eine Kompanie Reiter aus einer Seitenstraße heraus und trieb die Eindringlinge zurück.

An Guy und Arutha flogen Pfeile vorbei, und der Protektor sagte: »Sie haben ihre Bogenschützen in Stellung gebracht. Blast zum Rückzug!«

Ein Trompetenstoß ertönte aus der Gruppe der Bogenschützen, die auf halber Strecke die Straße hinauf postiert waren, und die Männer mit den Hämmern schlugen Löcher in die Fässer. Als die Fässer ausliefen, vermischte sich der Gestank von Öl mit dem rostigen Geruch von Blut, der in der Luft hing. Dann rannten die hammerschwingenden Soldaten die Straße hinauf, wo an jeder Ecke weitere Fässer warteten.

Guy zog Arutha am Ärmel. »Auf zur Zitadelle.« Arutha folgte Guy. Um sie herum brach der blutige Häuserkampflos.

 

Zwei Stunden lang dauerte der fürchterliche Kampf, den Guy und Arutha vom vorderen Kommandoposten der Zitadelle aus beobachteten. Überall aus der Stadt konnte man das Geschrei kämpfender Männer hören, und es kam langsam näher. An jeder Straßenbiegung in der Stadt lauerten Bogenschützen, und jeder Häuserblock, den die Eindringlinge nahmen, lag voll von ihren toten Kameraden. Murmandamus würde die äußere Stadt einnehmen, doch für einen hohen Preis. Arutha berichtigte seine Schätzung über die Opfer der anderen Seite: Über drei- oder gar viertausend Tote, bis der Feind den inneren Hof und den Wassergraben um die Zitadelle erreicht hätte. Und dann stände er erst vor der inneren Befestigungsanlage von Armengar.

Arutha sah gefesselt zu. Langsam wurde es schwierig, alles klar zu erkennen, denn die Sonne stand inzwischen hinter den Bergen, und die Stadt lag im Schatten. In ungefähr einer Stunde würde die Nacht anbrechen; dennoch konnte er noch das meiste ausmachen, was vor sich ging. Die gewandten Bogenschützen, die keine Harnische trugen, bewegten sich mit Hilfe der langen Bohlen von Dach zu Dach und zogen sie hinter sich fort. Einige Goblins hatten den Versuch unternommen, an den Außenseiten der Gebäude hochzuklettern, doch sie waren von Schützen auf anderen Häusern erschossen worden. Guy beobachtete die fortschreitende Schlacht mit wachsamem Auge. Arutha sagte: »Diese Stadt ist genau für diese Art Kampf angelegt worden.«

Guy nickte. »Wenn ich eine Stadt bauen müßte, in der eine feindliche Armee so bluten sollte, könnte ich es nicht besser machen.« Er sah Arutha scharf an. »Armengar wird fallen, wenn nicht bald Hilfe kommt. Wir können uns höchstens bis morgen früh halten. Doch wir werden es diesem Bastard zeigen. Wir werden ihn hart treffen. Wenn er seinen Marsch auf Tyr-Sog beginnt, wird er ein Drittel seiner Armee verloren haben.«

Arutha sagte: »Ein Drittel? Ich würde sagen, ein Zehntel.«

Mit einem humorlosen Grinsen auf den Lippen sagte Guy: »Paßt auf, und Ihr werdet sehen.« Der Protektor von Armengar schrie einem Signalgeber zu: »Wie lange noch?«

Der Mann winkte mit einem weißen und einem blauen Tuch zur Spitze der Zitadelle hinauf. Arutha blickte dorthin und sah, wie als Antwort ein gelbes Tuch geschwenkt wurde. Der Soldat sagte: »Nicht mehr länger als zehn Minuten.«

Guy dachte nach, dann sagte er: »Ich möchte einen weiteren Angriff mit Katapulten auf den Hof vor der Mauer.« Der Befehl wurde weitergegeben, und ein Hagel von Steinen ging über dem anderen Ende der Stadt nieder. Leise, wie zu sich selbst, sagte er: »Sollen sie ruhig denken, wir hätten unsere Reichweite überschätzt, damit sie sich beeilen, in die Stadt zu kommen.«

Die Zeit strich langsam dahin, und Arutha sah weiter zu, wie sich die Bogenschützen von Dach zu Dach zurückzogen. Als das Tageslicht in Dämmerung überging, jagte eine Gruppe von Soldaten die Straße entlang und strebte auf die Zugbrücke zu. Als die erste Kompanie die herabgelassene Brücke erreichte, kamen eine zweite und eine dritte in Sicht. Guy beobachtete, wie der Kommandant am Tor Befehl gab, die Brücke einziehen zu lassen. Der letzte Soldat hatte gerade seinen Fuß darauf gesetzt, als sie sich über den Wassergraben bewegte. Von den Dächern der Stadt schossen weitere armengarische Bogenschützen auf die Eindringlinge.

Arutha fragte: »Sind sie so tapfer und bleiben zurück?«

Guy antwortete: »Tapfer, ja, doch sie haben nicht vor zu sterben.« In dem Moment, als er das sagte, erreichten die Bogenschützen die letzte Häuserreihe. Sie ließen Seile hinunter und rutschten zur Straße hinab. Dann rannten sie auf die Zitadelle zu, wobei sie ihre Waffen achtlos fallen ließen. Die Angreifer setzten ihnen nach. Als diese die Mitte des offenen Platzes erreichten, der vormals als Marktplatz gedient hatte, schossen die Bogenschützen auf den Mauern der Zitadelle ihre Pfeile ab. Die fliehenden Armengaren rannten zum Rand des Wassergrabens und sprangen hinein.

Arutha sagte: »Sie werden erschossen werden, wenn sie die Mauer hochklettern wollen.« Doch die Soldaten tauchten nicht wieder auf.

Guy lächelte: »Unter Wasser gibt es Kanäle, die ins Torhaus und in andere Räume innerhalb der Mauer führen. Unsere Männer und Frauen werden herauskommen, und dann werden die Eingänge versiegelt.« Ein besonders verwegener Trupp Goblins rannte ihnen nach und sprang ins Wasser.

»Selbst wenn diese Dummköpfe die Kanäle finden, werden sie die Falltüren nicht öffnen können. Sie wären besser als Fische zur Welt gekommen.«

Amos kam aus dem Inneren der Zitadelle. »Wir haben alles vorbereitet.«

»Gut«, erwiderte Guy und sah zur Spitze der Zitadelle hoch, wo Armand die Kämpfe in der Stadt beobachtete.

Jemand winkte mit einem gelben Tuch. »Katapulte fertig!« schrie Guy Lange Zeit passierte nichts; schließlich sagte Guy: »Worauf wartet Armand?«

Amos lachte. »Er sieht sich vielleicht an, wie Murmandamus seine Armee durch die Tore führt, wenn wir Glück haben, oder er wartet ab, ob noch weitere tausend Soldaten hereinströmen.«

Arutha betrachtete das nächststehende Katapult, ein riesiges Ding, das nun mit Fässern geladen wurde, die locker aneinander gebunden waren. Die Fässer glichen solchen, die in Gasthäusern und Schenken zum Ausschank kleiner Mengen Branntwein benutzt wurden, und sie faßten nicht mehr als vielleicht vier Liter. Jedes Bündel bestand aus zwanzig oder dreißig dieser Fässer.

Amos sagte: »Das Signal.«

Arutha sah, daß oben eine rote Flagge geschwenkt wurde, und Guy rief: »Katapulte! Los!« An der ganzen Mauer entlang schleuderten ein Dutzend dieser riesigen Katapulte ihre Last in hohem Bogen über die Dächer der Stadt. Die Fässer verteilten sich, und der Hof vor der Mauer wurde flächendeckend mit Holz belegt. Die Mannschaften luden mit einer Geschwindigkeit nach, die Arutha erstaunte; nach kaum einer Minute wurde der nächste Befehl zum Abschuß gegeben, und wieder flogen Fässer durch die Luft. Während die dritte Ladung vorbereitet wurde, bemerkte Arutha, daß aus einem Stadtviertel Rauch aufstieg.

Amos sah es ebenfalls und sagte: »Die kleinen Schätzchen nehmen uns einige Arbeit ab. Sie müssen Feuer gelegt haben, um uns zu bestrafen, weil wir nicht willens waren zu sterben. Sie werden einen ganz schönen Schreck bekommen, wenn sie daneben stehen und es Naphtha regnet.«

Arutha begriff endlich. Der Rauch nahm schnell zu und breitete sich offensichtlich über den ganzen Hof vor der Mauer aus. »Und diese Fässer an allen Straßenecken?«

Amos nickte. »Zwei Hektoliter in jedem. Im ersten Häuserblock haben wir die Fässer angestochen, damit sich das Zeug über die ganzen Böden bis zur Mauer verteilt. Eine Menge dieser Mörder ist darin herumgetrampelt und hat sich vermutlich die Füße und Beine damit bekleckert. Außerdem stehen auf jedem Dach und in jedem Haus Fässer. Als wir die Pferde aus der Stadt gebracht haben, im zweiten Abschnitt der Räumung, haben wir aufgehört, das Öl abzuschöpfen, das aus der Erde aufsteigt. Jeder Keller der Stadt kann jetzt explodieren. Die Stadt wird Murmandamus einen heißen Empfang bereiten.«

Guy gab das Signal, und die dritte Ladung Fässer wurde losgeschleudert. Die beiden mittleren waren mit Steinen bestückt, die in ölgetränkte Lumpen gewickelt und dann angezündet worden waren. In einem glühenden Bogen schossen sie durch den dunklen Himmel. Plötzlich war der gesamte Bereich um das Außenwerk hell erleuchtet. Ein Flammenturm loderte auf und züngelte höher und höher. Arutha sah zu. Einen Moment später knallte es dumpf, und darauf folgte ein heißer Wind. Die Flammen stiegen noch weiter in die Höhe, und lange Zeit schien es, als wollten sie endlos wachsen. Schließlich fielen sie wieder in sich zusammen. Dafür erhoben sich jetzt schwarze Rauchwolken in die Luft, breiteten sich wie ein Schirm über der Stadt aus und bedeckten das orangefarbene Glühen der Hölle unter sich. »Das war einmal das Außenwerk«, erklärte Amos. »Wir haben Hunderte von Fässern unter dem Tor verstaut und für ausreichend Luftzufuhr gesorgt, damit die Flammen herankommen. Sie sind alle mit einem großen Knall hochgegangen. Wenn wir nur halb so dicht drangewesen wären wie hier, würden uns jetzt die Ohren klingeln.«

Schreie und Flüche erschollen aus der Stadt, während sich die Flammen ausbreiteten. Die Katapulte schleuderten weiterhin ihre explosive Fracht in das Feuer. »Verkürzt die Reichweite!« befahl Guy.

Amos sagte: »Wir treiben sie bis auf den Platz vor der Zitadelle, dann haben unsere Bogenschützen wieder ein paar Ziele zum Üben, damit sie nicht einrosten.«

Arutha bemerkte, wie die Hitze zunahm. Wieder folgte eine Explosion, dann noch eine, und jedesmal hörte man kurz darauf einen dumpfen Knall. Heiße Böen wehten auf die Zitadelle zu, derweil in der äußeren Stadt Flammensäulen in die Luft schossen. Wieder gab es Explosionen, und aus der zunächst verwirrenden Anordnung wurde deutlich, daß besonders an strategisch wichtigen Punkten viele Fässer gelagert worden waren. Das dumpfe Rumpeln der Explosionen ließ ihnen nun die Ohren klingeln; der lodernde Tod marschierte mit Eile von der Mauer auf die Zitadelle zu. Bald konnte Arutha allein am Klang unterscheiden, ob eine Ladung Fässer oder ein Keller explodierte. Es war, wie Guy gesagt hatte, ein heißer Empfang für Murmandamus.

»Signal«, sagte ein Soldat, und Guy sah nach oben. Jemand winkte mit zwei roten Flaggen, die man deutlich erkennen konnte, obwohl die Sonne längst untergegangen war: Die Stadt leuchtete.

»Armand signalisiert, die gesamte äußere Stadt steht in Flammen«, erklärte Amos Arutha. »Unpassierbar. Selbst die Schwarzen Kämpfer werden verbrennen, wenn sie darin gefangen sind.« Er grinste bösartig und strich sich über das Kinn. »Ich hoffe nur, das Hohe Arschloch persönlich konnte es nicht eilig genug haben, die Stadt an der Spitze seiner Armee zu betreten.«

Aus der Stadt hörte man sowohl Schreckens- und Wutschreie als auch hastige Fußtritte. Die Flammen bewegten sich stetig auf den Platz vor der Zitadelle zu, und ihre Ausbreitung wurde von den Explosionen der Fässer an den Straßenecken begleitet. Nun konnte man selbst auf der Mauer der Zitadelle die Hitze spüren. Arutha sagte: »Der Feuersturm wird ihnen die Luft aus den Lungen saugen.«

Amos nickte. »Wollen wir doch hoffen.«

Guy sah sich das Ganze einen Augenblick lang an. Man konnte deutlich sehen, wie erschöpft der Mann war. »Armand hat sich diesen Plan ausgedacht. Er ist verdammt genial, vielleicht der beste Kommandant, den ich je hatte. Er hat so lange gewartet, bis so viele wie möglich die Stadt betreten hatten. Wir werden uns auf der Flucht durch die Berge schlagen müssen, und deshalb müssen wir ihn so hart treffen, wie wir können.«

Arutha entdeckte hinter diesen Worten den Blick des besiegten Kommandanten, der seine Stellung nicht hatte halten können. Arutha sagte: »Ihr habt eine meisterhafte Verteidigung geführt.«

Guy nickte nur, und Arutha und Amos wußten beide, was er dachte: Es war nicht meisterhaft genug.

In diesem Moment rannten die ersten Eindringlinge auf die Zitadelle zu. Sie blieben stehen, als ihnen klar wurde, daß sie den Schützen auf der Mauer ausgesetzt waren. Im Schutz der letzten Häuser duckten sie sich, als warteten sie auf ein Wunder, das sie erlösen würde. Die Anzahl von Murmandamus' Soldaten, die vor den Flammen flüchteten, wuchs stetig, doch auch das Feuer kroch immer näher. Die Katapulte schossen weiterhin Naphtha in die Stadt, und bei jeder zweiten Ladung wurde die Entfernung verringert. Nun sahen die Verteidiger auf der Mauer, wie die Flammen aus den Dächern herausloderten, die nur noch ein paar Häuser vom Marktplatz entfernt waren. Schreiende Moredhel, Goblins und Menschen und ein paar verstreute Trolle und Riesen begannen, gegeneinander zu kämpfen, weil durch das zunehmende Drängen der Fliehenden aus der Stadt immer mehr von ihnen auf den offenen Platz gedrückt wurden. Guy sagte zu Amos: »Gebt den Bogenschützen den Befehl zum Schießen.«

Amos brüllte den Befehl, und die armengarischen Bogenschützen eröffneten das Feuer. Arutha beobachtete den Vorgang wie betäubt. »Das ist kein Krieg mehr«, sagte er leise. »Das ist ein Massaker.« Die Eindringlinge drängelten sich am Rand des Marktplatzes dicht aneinander, und jeder Pfeil, der bis dorthin flog, erwischte jemanden. Die Angreifer stolperten über die Leichen und stürzten, da von hinten immer weiter geschoben wurde.

Weitere Fässer mit Öl flogen ab, und die Flammen wanderten unerbittlich auf die Zitadelle zu.

Arutha hob die Hand vor die Augen, denn das Licht des Brandes blendete und die Hitze wurde unbehaglich. Für diese Kreaturen am Rande des Marktplatzes mußte sie vernichtend sein, da sie hundert Meter näher dran waren.

Immer mehr Fässer explodierten, und schreiend und kreischend brachen plötzlich alle zur Zitadelle durch. Viele von ihnen wurden auf dem Weg über den Platz erschossen, eine Anzahl sprang jedoch in den Wassergraben. Diejenigen, die Kettenharnische trugen, gingen unter und versuchten verzweifelt, sich ihrer Rüstung zu entledigen, selbst einige in Lederharnischen sanken. Doch die meisten kamen wieder an die Oberfläche und paddelten wie Hunde herum.

Arutha schätzte, daß etwa zweitausend Tote vor ihnen lagen. Weitere vier- bis fünftausend Mann waren vermutlich in der Stadt umgekommen. Die armengarischen Bogenschützen wurden langsam müde, und sie trafen ihre Ziele, die sich deutlich gegen das Feuer abhoben, kaum noch.

Guy sagte: »Öffnet die Rohre.«

Ein seltsames, pfeifendes Geräusch ertönte, als das Öl auf das Wasser des Grabens gelassen wurde. Schreckensschreie erfüllten die Luft; die im Wasser begriffen, was auf sie zukam. Die Flammen breiteten sich jetzt auch über den Hof vor der Burg aus, und brennende Ballen wurden über die Mauer in den Wassergraben geworfen. Die aufgewühlte Oberfläche des Wassers loderte in blauweißen Flammen auf. Bald verstummten die Schreie, und schließlich war alles vorbei.

Arutha und die anderen mußten sich zurückziehen, als die Hitze vom Wassergraben her zu stark wurde. Nachdem das Feuer niedergebrannt war, warf der Prinz von Krondor einen Blick nach unten und sah schwarze Körper auf dem Wasser treiben. Ihm würde übel, und das gleiche Gefühl spiegelte sich auch auf Guys Gesicht, wie er bemerkte. Amos hingegen wirkte nur grimmig. Während der Brand in der Stadt sich jeder Kontrolle entzog, sagte Guy: »Ich glaube, ich würde gern etwas trinken. Kommt. Wir haben nur noch ein paar Stunden.«

Ohne Worte folgten Amos und Arutha dem Protektor von der sterbenden Stadt fort ins Innere der Zitadelle.

 

Guy leerte seinen Krug und zeigte auf die Karte auf dem Tisch. Arutha sah zur Seite, wo die rußverschmierte Briana mit den anderen Kommandanten auf Guys letzte Befehle wartete. Jimmy und Locklear waren von ihrem Dienstposten gekommen und hatten sich neben Arutha gestellt. Selbst im Ratszimmer konnten sie die Hitze des immer noch brennenden Feuers spüren. Die Katapulte hatten nicht aufgehört, Öl in die Flammen zu schleudern. Wie viele von Murmandamus' Leuten der Falle auch entkommen waren, jetzt mußten sie wegen des Infernos vor der Stadt warten. »Hier«, sagte der Protektor und deutete auf etliche grüne Punkte auf der Karte, »sind die Pferde versteckt.« Zu Arutha sagte er: »Sie wurden während des zweiten Abschnitts der Räumung aus der Stadt gebracht.« Er wandte sich wieder an die ganze Gesellschaft. »Wir wissen nicht, ob die Goblins über das eine oder andere Versteck gestolpert sind oder ob sie sogar alle entdeckt haben. Doch hoffentlich sind zumindest einige verborgen geblieben. Ich denke, sie sind davon ausgegangen, daß wir uns hier oben hinter unsere Schanzen zurückziehen, wenn es zum Ende kommt. Und deshalb haben sie es vielleicht nicht für notwendig gehalten, dort besonders wachsam zu sein. Der geheime Gang aus der Stadt ist immer noch unentdeckt; lediglich eine einzige Patrouille ist in die Nähe des Ausgangs gekommen. Doch, wie beobachtet wurde, ist sie wieder abgezogen, ohne das Gelände genauer zu untersuchen. Der Befehl lautet also wie folgt:

Die Kompanien verlassen die Stadt nacheinander, von der Ersten bis zur Zwölften, und zwar mit allem Gerät. Der Tunnel darf nur verlassen werden, wenn das Gelände vor dem Ausgang sicher ist. Ich will, daß die Erste Kompanie die Umgebung bewacht, bis sie von der Zweiten abgelöst wird. Wenn die Zwölfte aus dem Tunnel kommt, wird also die Elfte aufbrechen. Nur jene Soldaten bleiben hier, die als Rückendeckung vorgesehen sind. Ich wünsche jetzt in den letzten Minuten keine Heldentaten, die die Räumung gefährden. Und ich wünsche ebenfalls nicht, daß es irgendwelche Mißverständnisse gibt. Hat jeder verstanden, was er zu tun hat?«

Niemand machte eine Bemerkung, also sagte Guy: »Gut. Eines sollte allen klar sein: sobald die Männer außerhalb der Stadt sind, sind sie auf sich selbst angewiesen. Ich möchte, daß so viele wie möglich Yabon erreichen.« Kalte Wut schwang in seiner Stimme, als er sagte: »Eines Tages werden wir Armengar wieder aufbauen.« Dann zögerte er, und die folgenden Worte schienen ihm nicht leichtzufallen. »Also, beginnt den letzten Abschnitt der Räumung.«

Die Kommandanten verließen den Saal, und Arutha fragte: »Wann werdet Ihr gehen?«

Guy sagte: »Als letzter, selbstverständlich.« Arutha sah Amos an, und der nickte.

»Hättet Ihr etwas dagegen, wenn ich bei Euch bliebe?«

Guy wirkte überrascht. »Ich wollte Euch gerade vorschlagen, daß Ihr Euch der Zweiten Kompanie anschließt. Die Erste stößt womöglich auf Überraschungen, den späteren kommt vielleicht die Verstärkung aus den Bergen zu Hilfe. Die letzte läuft am meisten Gefahr, überwältigt zu werden.«

Arutha sagte: »Ich weiß nicht, ob ich wirklich daran glaube, ich sei der Krieger, der Murmandamus vernichten wird, doch falls ich es bin, sollte ich vielleicht bleiben.«

Guy sann einen Moment lang darüber nach. »Warum nicht? Ihr könnt nicht mehr tun, als Ihr schon getan habt. Hilfe ist entweder unterwegs oder nicht. Auf jeden Fall kommt sie zu spät, um die Stadt zu retten.«

Arutha sah zu Jimmy und Locklear. Jimmy wollte offensichtlich gerade eine spöttische Bemerkung machen, doch Locklear meinte einfach: »Wir bleiben auch.«

Arutha sah den seltsamen Ausdruck auf dem Gesicht des Junkers aus Endland, und er verkniff sich das, was er sagen wollte. Die jungenhafte Unsicherheit, die immer hinter Locklears bereitwilligem Lächeln gelauert hatte, war verschwunden. Seine Augen blickten reifer, weniger versöhnlich, und ohne Zweifel trauriger. Arutha nickte.

Sie warteten einige Zeit und tranken Bier, um den Geschmack des Feuers hinunterzuspülen und sich von der Hitze abzukühlen. Gelegentlich traf ein Bote ein und berichtete, daß die nächste Kompanie die Zitadelle verlassen hätte. Die Stunden zogen sich dahin, nur unterbrochen von den vereinzelten dumpfen Explosionen, wenn wieder ein Keller in die Luft gegangen war. Arutha fragte sich, wie es immer noch weitere Brandherde geben konnte, doch jedesmal, wenn er glaubte, die Stadt sei ausgebrannt, folgte die nächste Explosion; die Zerstörung war noch nicht beendet.

Als der erfolgreiche Aufbruch der Siebten Kompanie gemeldet worden war, betrat ein Soldat den Saal. Er war in Leder gekleidet, doch er gehörte deutlich zur Reserve der Hirten oder Bauern. Er hatte das rote Haar, das ihm auf die Schultern fiel, nach hinten gebunden, und sein Gesicht war von einem roten Vollbart bedeckt. »Protektor! Kommt, seht Euch das an!«

Guy und die anderen eilten hinter dem Krieger zu den Fenstern in dem langen Flur vor dem Saal und sahen hinaus auf die brennende Stadt. Das wilde Inferno hatte sich etwas gelegt, doch überall loderten noch unkontrollierbare Flammen. Sie hatten angenommen, es würde noch eine weitere Stunde dauern, bis Murmandamus neue Soldaten durch die zerstörten Straßen schicken konnte. Doch jetzt sah es so aus, als hätten sie sich getäuscht. Zwischen den immer noch brennenden Gebäuden in der Nähe des Marktplatzes schlichen Gestalten auf die Zitadelle zu.

Guy verließ den Balkon und eilte zur Mauer. Von dort konnte er im Feuerschein die Silhouetten einer Truppe Soldaten ausmachen. Sie bewegten sich langsam voran, als wollten sie innerhalb eines bestimmten Bereichs bleiben. Während Guy und die anderen dies beobachteten, meldete ein Kurier den Aufbruch der Achten Kompanie. Die heranrückenden Gestalten hatten nun den äußeren Hof erreicht, und Guy fluchte. Kompanien von Goblins standen dort unter schützenden Schilden, und bis auf gelegentliche Lichtspiegelungen auf der Oberfläche unsichtbar. Murmandamus ritt heran.

»Was ist das?« fragte Jimmy Ohne offenkundige Schwierigkeiten und ohne Schutz ritt der Anführer der Moredhel durch die immer noch starke Hitze, und die Bestie unter ihm war fürchterlich anzuschauen. Sie hatte die Gestalt eines Pferdes, war jedoch mit rotglühenden Schuppen bedeckt, als wäre eine Schlangenhaut bis zum Schmelzpunkt erhitzt worden. Die Mähne und der Schwanz der Kreatur waren tanzende Flammen und die Augen wie glühende Kohlen. Sie atmete heißen Dampf aus. »Dämonenroß«, sagte Arutha. »Eine Legende, ein Reittier, auf dem nur ein Dämon reiten kann.«

Die Kreatur bäumte sich auf, und Murmandamus zog das Schwert. Er schwang es nach vorn, und vor den ersten Kompanien seiner Armee erwachte ein pechschwarzes Etwas zum Leben, das jedes Licht aufsaugte. Es zerfloß auf den Steinen des Platzes wie Quecksilber zu einem Rechteck. Nach einem Moment wurde den Beobachtern auf der Zitadelle klar, daß es eine zehn Fuß breite, schwarze Plattform bildete. Dann erhob sich das seltsame Etwas langsam Fuß um Fuß und wurde zu einer dunklen Rampe über den Wassergraben. Ein Stück des schwarzen Etwas brach aus der Rampe heraus und schwebte von der sich erhebenden Brücke fort. Es festigte sich zu einem Block und wuchs. Der Block formte eine weitere Brücke. Nach einer Weile spalteten sich noch ein dritter und dann ein vierter Block ab und modellierten sich. Guy sagte: »Verflucht! Er baut Brücken zur Mauer.« Dann schrie er: »Gebt Befehl, die Räumung zu beschleunigen.«

Als die schwarzen Brücken die Mitte des Wassergrabens erreicht hatten, betraten die ersten Kompanien der Goblins sie und bewegten sich langsam auf die Kante zu. Meter um Meter schoben sich die schwarzen Brücken auf die Verteidiger zu. Guy befahl den Bogenschützen zu schießen.

Die Pfeile gingen los, prallten jedoch ab, als wären sie gegen eine Wand geflogen. Was auch immer die Angreifer vor der Hitze geschützt hatte, schützte sie auch vor den Pfeilen. Die Brände in der äußeren Stadt brannten herunter, und immer mehr Angreifer drangen in Armengar ein, wie die Wache von der Spitze der Zitadelle meldete.

Guy schrie: »Von der Mauer runter! Die Nachhut auf die Balkone. Alle anderen Einheiten räumen die Zitadelle sofort. Niemand bleibt zurück!«

Die jetzt noch geordnete Räumung würde bald zu einer hastigen Flucht werden. Die Eindringlinge würden die letzten Befestigungen etwa eine Stunde früher überwinden, als Guy es für möglich gehalten hatte. Arutha wußte, es könnte innerhalb der Zitadelle zu einem Kampf kommen, und im Geiste machte er sich schon darauf gefaßt, in diesem Fall solange zu warten, bis er Murmandamus gegenübertreten konnte.

Sie jagten über den Hof und eilten zu der inneren Treppe zum ersten der drei Balkone. Überall wurden Fenster und Türen zugeschlagen und verrammelt. Als sie die lange Eingangshalle verließen, bemerkte Arutha, wie ein Stapel Fässer vor dem Aufzug plaziert wurde. Weitere Fässer wurden vor alle Türen gestellt, und alle wurden geöffnet. Guy du Bas-Tyras letzte Tat würde es sein, die Zitadelle in Brand zu stecken, in der Hoffnung, daß noch mehr von Murmandamus' Soldaten getötet wurden. Und für das Wohl des Königreichs hoffte Arutha, Murmandamus' Fähigkeit, seine Soldaten vor dem Feuer zu schützen, würde an irgendwelche Grenzen stoßen.

Soldaten rannten durch die Halle und zerschlugen seltsame Abdeckungen in der Wand, die von einfachen Tafeln in der Farbe des weißen Steins verborgen gewesen waren. Dahinter wurden schwarze Löcher sichtbar. Der schwache Geruch von Naphtha drang durch die Lüftungslöcher ein. Als sie hinaus auf den Balkon gingen, bemerkte Amos Aruthas neugierigen Blick und sagte: »Die Lüftungsschächte verlaufen vom Keller bis zum Dach. Damit das Feuer mehr Luft bekommt.«

Arutha nickte und sah zu, wie die erste Welle von Murmandamus' Soldaten die Brüstung der Mauer erklomm. Sobald sie die Mauer betreten hatten, verschwand das sie schützende Feld, und sie schwärmten aus und suchten nach Deckung, als die Bogenschützen auf den Balkonen zu schießen begannen. Die Katapulte waren jetzt nutzlos, denn die Entfernung war zu kurz, doch ein Dutzend Wurfmaschinen, die wie gigantische Armbrüste aussahen, schleuderten große speerähnliche Geschosse auf die Feinde. Guy gab den Mannschaften der Wurfmaschinen den Befehl, den Balkon zu verlassen.

Der Protektor sah zu, wie seine Bogenschützen die Eindringlinge in die Enge trieben. Arutha wußte, daß jeder Moment zählte, weil dann wieder einigen die Flucht aus der Stadt gelingen konnte.

Hinter den näherkommenden Goblins stürmten weitere die Mauern, wie man hören konnte. Murmandamus' Truppen übernahmen das Torhaus, ließen die Brücke hinunter und öffneten das Tor, und eine Armee flutete herein. Die Brände in der Stadt waren so gut wie ausgebrannt, und mehr Kompanien der Eindringlinge marschierten auf die Zitadelle zu. Schließlich schrie Guy: »Es ist vorbei! Alle in den Tunnel!«

Jeder der Bogenschützen ließ einen letzten Pfeil fliegen, dann wandten sich alle um und flohen ins Innere. Getreu seinem Wort wartete Guy, bis alle anderen drinnen waren, bevor auch er hereinkam und die letzte Tür verrammelte. Fensterläden schützten sämtliche Fenster auf dem Balkon. Von unten hörte man harte Schläge, als die Eindringlinge versuchten, die verrammelten Türen aufzubrechen.

»Der Aufzug ist ganz nach oben gezogen«, rief Amos. »Wir müssen die Treppe nehmen.«

Sie umrundeten eine Ecke und kamen in einen anderen Flur, schlugen die Tür zu, verrammelten sie und rannten eine enge Treppenflucht hinunter. Unten erreichten sie die riesige Höhle. Jede der speziellen Laternen brannte, und die Höhle war von einem geisterhaften Licht erhellt. Aruthas Augen schmerzten von den Öldünsten, die durch die Brise aus dem Tunnel aufgewirbelt wurden. Die letzte Reservekompanie betrat gerade den Fluchtgang. Guy und die anderen rannten auf die Tür zu und mußten warten, weil im Tunnel immer nur Platz für zwei Leute nebeneinander war. Von oben her hörten sie Rufe und Schläge gegen die Türen.

Wieder bestand Guy darauf, der letzte zu sein. Er schloß die Tür und verrammelte sie mit einem großen Eisenriegel. »Dafür brauchen sie sicher ein paar Minuten.« Als er sich zur Flucht wandte, meinte er zu Arutha: »Betet, daß keiner dieser Bastarde eine Fackel in die Höhle bringt, ehe wir den Tunnel verlassen haben.«

Sie eilten los und schlugen immer wieder Zwischentüren zu, die der Protektor verriegelte. Endlich erreichten sie das Ende des Tunnels, und Arutha betrat eine große Höhle. Nicht weit vor ihnen konnte man durch den riesigen Ausgang in die Nacht hinaussehen. Ein Dutzend Bogenschützen der Nachhut hielten sich schußbereit, für den Fall, daß Guy angegriffen wurde, solange er noch die letzte Tür verschloß. Weitere drei oder vier Dutzend standen kurz vor dem Aufbruch. Sie warteten nur noch einen Moment, damit sie nicht direkt hinter der vor ihnen gestarteten Gruppe der Flüchtlinge losliefen. Den Geräuschen nach, die aus der Dunkelheit zu ihnen drangen, waren bereits einige der Armengaren in Gefechte mit feindlichen Einheiten verwickelt. Arutha wußte, höchstwahrscheinlich würden sich die meisten Flüchtlinge bis zur Morgendämmerung weit in den Hügeln verteilt haben.

Guy scheuchte die Bogenschützen mit einer Handbewegung aus der Höhle, und bald waren alle außer der Nachhut sowie Locklear, Jimmy, Arutha, Amos und Guy verschwunden. Guy schickte schließlich auch die Nachhut fort, und die fünf waren allein. Aus der Dunkelheit tauchte eine Gestalt auf, und Arutha erkannte ihn als den Krieger, der die Nachricht gebracht hatte, daß Murmandamus durch die Flammen anmarschierte. »Flieh!« sagte Guy.

Der Soldat zuckte mit den Schultern und schien den Befehl überhaupt nicht zu beachten. »Ihr habt gesagt, jeder Mann muß auf sich selbst achten, Protektor. Demnach kann ich auch hier bleiben.«

Guy nickte. »Dein Name?«

»Shigga.«

Amos sagte: »Ich habe von dir gehört, Shigga der Speer. Hast die Mittsommerspiele letztes Jahr gewonnen.« Der Mann zuckte mit den Achseln.

Guy fragte: »Hast du de Sevigny gesehen?«

Shigga deutete mit dem Kinn auf den Ausgang der Höhle. »Er und einige andere sind gerade losgezogen, bevor Ihr eingetroffen seid. Sie sind sicherlich schon an den obersten Schanzen vorbei, die etwa hundert Meter von hier liegen.«

Aus dem Tunnel drang schwach das Krachen von brechendem Holz.

»Sie haben die letzte Tür erreicht.« Guy griff nach einer Kette, die unter der Schwelle der Tür durchgezogen war. »Helft mir.« Alle packten die Kette und zogen daran, bis sie sie an einer Wurfmaschine befestigen konnten, die von der Tür fortwies. Die Wurfmaschine war im Felsboden der Höhle verankert. Sie war nicht geladen, doch sobald die Kette daran befestigt war, erkannte Arutha den Sinn der Kriegsmaschine.

»Ihr löst die Wurfmaschine aus, und sie bringt den Tunnel zum Einsturz?«

Amos erklärte: »Die Kette verbindet die Stützen des Tunnels bis zur Höhle miteinander. Die Tunneldecke wird auf Hunderte dieser verdammten Ratten niederbrechen. Aber das ist noch nicht alles.«

Guy nickte. »Lauft jetzt los, und wenn Ihr den Ausgang erreicht, löse ich sie aus.«

An der letzten Tür war jetzt ein rhythmisches Pochen zu hören; sie mußten eine Ramme zum Einsatz gebracht haben. Arutha und die anderen eilten aus der Höhle hinaus und blieben dort stehen, um die Sache zu beobachten. Guy löste die Wurfmaschine aus, und sie schien erst zu klemmen, dann riß sie die Kette mit einem Ruck nur ein paar Zoll vorwärts. Das reichte. Die Tür brach abrupt nach vorn heraus, und Guy rannte zum Höhlenausgang. Hinter ihm breitete sich eine Staubwolke aus. Einige blutige, erschlagene Goblins kamen zum Vorschein, und Felsen kullerten aus dem Tunnel.

Sie alle, Guy eingeschlossen, liefen davon. Der Protektor zeigte nach oben, wo ein Pfad auf den Berg über der Höhle führte. »Ich werde noch eine Weile dort hinaufgehen. Wenn Ihr aufbrechen wollt, geht, doch ich muß mir das ansehen.«

Amos sagte: »Das möchte ich auch nicht verpassen«, und folgte ihm. Arutha blickte ihnen hinterher und kam dann nach.

Während sie neben dem Höhleneingang hochkletterten, konnten sie plötzlich unter ihren Füßen ein Rumpeln spüren, dem eine Serie von dumpfen Explosionen folgte. Amos sagte: »Der Aufzug war so eingerichtet, daß er herunterstürzte, als der Tunnel zusammenbrach. Das wird die Fässer auf allen Stockwerken zur Explosion gebracht haben, bis unten in die Höhle.« Wieder hörten sie eine Reihe von Explosionen. »Scheint, als würde es funktionieren.«

Plötzlich bebte der Grund unter ihren Füßen. Ein Lärm, als würde der Himmel aufreißen, rauschte in ihren Ohren, und sie wurden zu Boden geworfen. Eine enorme Erschütterung ließ sie einen Moment lang wie betäubt daliegen. Über dem Grat der Erhebung, die sie hinaufgeklettert waren, konnten sie einen erstaunlichen, gelben und orangefarbenen Feuerball in den Himmel steigen sehen. Er schoß weiter nach oben und breitete sich aus, und in der schrecklichen Schönheit seines Glühens sahen sie, wie Trümmer in die Höhe geschleudert wurden. Dumpfes Grollen ließ den Boden erzittern, als sich die letzten Reserven an Naphtha entzündeten und den Bergfried auseinanderrissen. Steine, zerfetzte Reste von Holz und Leichen wurden in die Luft geworfen, als hätte sie ein Wirbelsturm erfaßt.

Arutha lag am Boden, sprachlos von diesem Anblick. Ein scharfer Wind strich über ihn hinweg, ihm folgte eine starke Hitze. Die Luft brannte in der Nase und stach in die Gesichter, als ständen sie nur wenige Meter vor einem riesigen Kamin. Amos mußte schreien, um sich in dem Lärm verständlich zu machen.

»Das Lager unter der Zitadelle ist hochgegangen. Wir haben dort den ganzen Tag und die ganze Nacht gelüftet, damit es ein schön explosives Luftgemisch gibt.«

Seine Worte waren kaum zu hören, denn allen klingelte das Tosen in den Ohren, und sie wurden von einer weiteren Explosion von ungeheurer Wucht auf den Boden gedrückt. Der Grund unter ihnen hob und senkte sich. Eine Reihe kleinerer Explosionen folgte, und die Erschütterungen hämmerten auf sie ein wie Faustschläge. Sie waren noch immer zweihundert Meter von dem Abgrund entfernt, von dem aus man die Stadt überblicken konnte, doch die Hitze war selbst im Liegen nahezu unerträglich.

Guy schüttelte den Kopf, damit er wieder zu sich kam, und sagte: »Es war ... noch stärker, als wir vermutet haben.«

Locklear sagte: »Wenn wir den Rand der Felswand vor uns erreicht hätten, wären wir gegrillt worden.«

Jimmy warf einen Blick über die Schulter. »Und es war auch nicht verkehrt, daß wir die Höhle verlassen haben.«

Alle reckten die Hälse und sahen zurück in die Richtung, in die der Junker zeigte. Der Boden schwankte immer noch, und weitere Explosionen folgten. Schutt rollte an ihnen vorbei den Hang hinab. Unter ihnen hatte sich die Gestalt des Berges verändert. Durch die erste große Explosion war der gesamte Inhalt des Tunnels ins Freie geblasen worden. Der Hang vor der Höhle war bedeckt mit Trümmern und Leichenteilen. Dann bebte der Boden bei einer weiteren Explosion noch einmal. Wieder erhob sich über ihnen ein Feuerball, wenn auch nicht ganz so riesig wie der letzte.

Eine dritte gewaltige Explosion folgte, woraufhin es noch einmal, etwas schwächer, bebte. Alle lagen still da, denn wer versucht hätte, aufzustehen, wäre durch das Zittern der Erde gleich wieder umgeworfen worden. Nach einer Zeit vibrierte der Grund unter ihnen nur noch leicht, und sie konnten sich wieder erheben. Noch immer gute zweihundert Meter vom Abgrund über der Stadt entfernt, versammelten sie sich und beobachteten, wie die endgültige Zerstörung von Armengar ihrem Ende zuging. In nur einigen wenigen schrecklichen Augenblicken war die Heimat eines Volkes, der Mittelpunkt seiner Kultur, hinweggefegt worden. Diese Vernichtung war in der Geschichte der Kriege auf Midkemia unübertroffen. Guy warf einen Blick auf den drohenden und glühenden Himmel. Er versuchte, näher an die Kante der Klippe heranzukommen, doch die Gluthitze erhob sich wie ein fast sichtbarer Vorhang vor dem Abgrund und trieb ihn zurück. Einen Moment lang stand er da, als wollte er dem Inferno die Stirn bieten und trotzdem einen Blick auf die Überreste seiner Stadt werfen, dann gab er auf.

»Nichts kann diese Explosion überlebt haben«, bemerkte Arutha. »Jeder Goblin und jeder Dunkle Bruder zwischen der Zitadelle und der Stadtmauer müssen getötet worden sein.«

Amos sagte: »Vielleicht ist Seine Hoheit, der königliche Bastard, ja ebenfalls kalt erwischt worden. Ich würde gerne glauben, daß seine Magie an ihre Grenzen gestoßen wäre.«

Arutha sagte: »Seine Soldaten mögen gefallen sein, doch ich glaube, er selbst wird entkommen. Und der Bestie, die er geritten hat, kann das Feuer kaum etwas ausgemacht haben.«

Jimmy sagte: »Seht!« und zeigte in den Himmel.

Die Rauchwolke über ihnen glühte rot vom Feuerschein, während sich immer noch eine Flammensäule in den Himmel erhob. Vor dem wütenden Hintergrund war eine einsame Gestalt zu sehen, die auf dem Rücken eines glühenden Rosses durch die Luft schoß. Es sah aus, als würde sie in Schlangenlinien einen Berg hinunterreiten, und sie strebte offensichtlich auf das Zentrum von Murmandamus' Lager zu.

»Dieser Sohn einer räudigen Hündin«, fluchte Amos. »Kann denn nichts diesen Fliegenfresser umbringen?«

Guy sah sich um. »Ich weiß es nicht, doch wir haben jetzt andere Sorgen.« Er begann, hinunterzuklettern, und sie entdeckten, daß die gesamte Höhle unter ihnen eingestürzt war. Wo der Eingang gewesen war, ergoß sie jetzt nur noch Schutt ins Tal. Sie suchten sich ihren Weg durch die Trümmer und kamen an etlichen zusammengebrochenen Schanzen vorbei, die die Stadt gegen Angriffe von oben hatten schützen sollen. Schließlich erreichten sie einen Graben, der sie hinunter in den Canon führte, in dem Pferde versteckt worden waren.

Guy sagte: »In den vorderen vier oder fünf Canons werden sich die ersten Flüchtlinge die Pferde genommen haben. Wenn wir also Reittiere suchen wollen, müssen wir weiter nach draußen.«

Arutha nickte: »Dennoch müssen wir zuerst eine Entscheidung treffen: Sollen wir uns westwärts nach Yabon oder ostwärts nach Hohe Burg wenden?«

»Nach Yabon«, entgegnete Guy. »Sollte Hilfe unterwegs sein, haben wir die Chance, ihr auf der Straße zu begegnen.« Er ließ seinen Blick schweifen, um festzustellen, welches die Richtung war, die sie am besten einschlagen sollten. »Was auch immer Murmandamus für Einheiten hier stationiert hatte, sie werden mittlerweile wohl aufgerieben sein. Vielleicht haben wir Ruhe.«

Amos lachte in sich hinein. »Selbst seine großen Kompanien werden sich nicht gern einer fliehenden Armee in den Weg stellen wollen. Das ist nicht gerade der Gesundheit dienlich.«

Guy sagte: »Trotzdem, wenn es um ihr Leben geht, kämpfen sie wie die Ratten, die sie sind. Und beim ersten Tageslicht werden Tausende als Verstärkung hier heraufkommen. Wir haben bestenfalls noch ein paar Stunden zur Flucht.«

Aus dem Canon war ein Geräusch zu hören, und alle zogen ihre Waffen und verbargen sich im kargen Schutz, den ihnen die herabgestürzten Felsen boten. Guy gab ein Zeichen, damit sie sich bereithielten.

Schweigend warteten sie, und hinter einer Ecke kam eine Gestalt hervor. Guy sprang vorwärts und hielt mitten im Schlag inne. »Briana!«

Die Kommandantin der Dritten Kompanie sah leicht benommen aus, an ihrer einen Schläfe blutete eine Schnittwunde. Als sie Guy erkannte, entspannte sie sich. »Protektor«, sagte sie erleichtert. »Wir wurden gezwungen, umzukehren. Eine Patrouille von Trollen tauchte am unteren Ende des Canons auf. Sie versuchten offenbar, zu ihren eigenen Truppen zu fliehen. Während wir kämpften, um aneinander vorbeizukommen, gab es diese Explosion. Wir wurden mit Steinen überschüttet. Ich weiß nicht, was mit den Trollen passiert ist. Ich glaube, sie sind geflohen ...« Sie deutete auf ihre blutende Stirn. »Einige von uns wurden verletzt.«

»Wer ist bei dir?« fragte Guy.

Arutha machte einen Schritt auf sie zu, während Briana den Kopf schüttelte, um zu sich zu kommen, dann gab sie ein Zeichen, und im Feuerschein des Brandes in der Stadt tauchten zwei weitere Wachen, von denen eine offensichtlich verwundet war, und etwa ein Dutzend Kinder auf. Die Augen vor Schreck aufgerissen, musterten sie Arutha, Guy und die anderen.

Briana sagte: »Sie sind einigen Dunklen Brüdern in die Falle gegangen. Einige meiner Soldaten töteten die Dunklen Brüder, doch wir wurden voneinander getrennt. In der ganzen letzten Stunde sind wir immer wieder auf Versprengte gestoßen.«

Guy zählte. »Sechzehn.« Er wandte sich an Arutha. »Was sollen wir jetzt machen?«

Arutha erwiderte: »Ob sich jeder Mann nun selbst durchschlagen soll oder nicht, wir können sie jedenfalls nicht allein hier zurücklassen.«

Amos drehte sich um. Ein Geräusch hatte seine Aufmerksamkeit erregt. »Was auch immer wir tun, es wäre besser, wir täten es irgendwo anders. Also, kommt mit.«

Guy zeigte auf den Rand der Schlucht, und er und die anderen halfen den Kindern dabei, hinaufzuklettern. Bald standen alle oben an der Kante des Canons und machten sich auf in Richtung Westen.

Arutha erreichte den oberen Rand des Canons als letzter, und während die anderen bereits außer Sicht waren, ließ er sich hinter einem Felsvorsprung auf die Knie nieder. Eine Kompanie Goblins erschien. Sie bewegten sich vorsichtig voran, als erwarteten sie hinter jeder Biegung einen Angriff. Offensichtlich versuchten sie, ungeschoren wieder zu ihren eigenen Reihen zurückzugelangen. Da einige von ihnen bluteten, hatten sie offensichtlich bereits ein Gefecht mit armengarischen Flüchtlingen hinter sich. Arutha wartete, bis er sich vergewissert hatte, daß die Kinder sicher davongezogen waren, dann nahm er einen Stein und schleuderte ihn so weit wie möglich an den Goblins vorbei. Der Stein flog ungesehen durch die Nacht und schlug polternd hinter ihnen auf. Die Goblins fuhren herum und eilten davon, als fürchteten sie einen Angriff von hinten. Arutha duckte sich an die Felsen und lief gebeugt los, dann sprang er auf den anderen Weg. Bald holte er den hintersten Mann seiner Truppe ein. Es war Shigga, der die Rückendeckung übernommen hatte.

Shigga machte eine Geste mit dem Kopf. Arutha flüsterte: »Goblins.«

Der Speerwerfer nickte, und die beiden liefen den Weg entlang und folgten den kleinen Flüchtlingen.